Die glitzernde Skyline Chicagos mit ihren über 400 Wolkenkratzern scheint wie ein Relikt aus einer anderen Zeit, als wirtschaftlicher Aufschwung und Fortschritt noch an der Höhe von Immobilien festgemacht wurden. Vielleicht wollten die vielen polnischen Einwanderer sich auch nur näher zu Gott fühlen. Seit den 1970er Jahren wurde das Stadtbild vom Willis Tower bestimmt, 25 Jahre lang das höchste Gebäude der Welt. Der düstere Monolith scheint nun argwöhnisch dem eben entstehenden Vista Tower entgegenzublicken. Die geschwungene Fassade der Türme am gegenüberliegenden Ufer des Chicago River, Studien in blau verlaufenem Glas, spielt raffiniert mit dem Wind und wird damit selbst ein Teil des Himmels. Kein Zufall, die Türme sind ein Projekt der visionären amerikanischen Architektin Jeanne Gang.
Jeanne Gang und ihr Team inszenieren radikale Interventionen ins öffentliche Leben, die gleichzeitig stilsicher und innovativ sind. Ihr Büro liegt im Hipster-Viertel Wicker Park in einem robusten zweistöckigen Art-déco-Gebäude. Sie empfängt in einem holzgetäfelten Konferenzraum. Sanfte Stimme, hellwache Augen, sie wärmt ihre Hände an einem heißen Kaffeebecher. ‘Ich glaube, dass man sich als Architekt heute nicht einfach aufs Hausbauen beschränken kann. Dafür wissen und können wir zu viel’, sagt die 55-Jährige. Für ihren interdisziplinären Ansatz wurde Gang vom Time Magazine zu einem der 100 einflussreichsten Menschen des Jahres 2019 gekürt.”